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Die betriebliche Übung

Arbeitsvertragliche Ansprüche können nicht nur durch deren ausdrückliche (schriftliche oder mündliche) Vereinbarung begründet werden. Sie können auch durch »betriebliche Übung« entstehen. Ein echter Klassiker, den Sie als Betriebsrat kennen müssen.

Unter einer betrieblichen Übung ist ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers zu verstehen, aus dem die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Die betriebliche Übung gründet sich auf eine Willenserklärung des Arbeitgebers, die von den Arbeitnehmern ohne ausdrückliche Erklärung (stillschweigend) angenommen wird, was nach § 151 BGB möglich ist. Auf diese Weise entstehen arbeitsvertragliche Ansprüche der Arbeitnehmer, die Leistung bzw. Vergünstigung auch künftig zu erhalten. Für die Begründung eines solchen Anspruchs auf betriebliche Übung kommt es dabei nicht darauf an, ob der Arbeitgeber einen Verpflichtungswillen hatte. Maßgebend ist vielmehr, ob die Arbeitnehmer aus dem Erklärungsverhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie aller Begleitumstände auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften und das entsprechende Angebot stillschweigend annehmen konnten. Die Bindungswirkung tritt ein, wenn die Arbeitnehmer auf Grund des Verhaltens des Arbeitgebers darauf vertrauen dürfen, die Leistung solle auch für die Zukunft gewährt werden (ständige Rechtsprechung des BAG; vgl. z. B. BAG v. 23. 04. 1963 - 3 AZR 173/62).


Was ist das?

Hierzu BAG v. 19. 8. 2015 - 5 AZR 450/14: »Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille, sondern wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und ob er auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durfte.«


Beispiel: Der Arbeitgeber zahlt über mindestens drei Jahre, ohne dass dies ausdrücklich vereinbart war und ohne Freiwilligkeits- bzw. Widerrufsvorbehalt, ein zusätzliches (über den Tarifvertrag hinausgehendes) Weihnachtsgeld. Die Arbeitnehmer nehmen diese Zahlung entgegen. Folge: Der Arbeitgeber ist infolge dieser »betrieblichen Übung« verpflichtet, die Zahlung auch in Zukunft zu erbringen, sofern nicht besondere Umstände zu einer anderen Auslegung des bisherigen Arbeitgeberverhaltens führen (vgl. z. B. BAG v. 23. 04. 1963 - 3 AZR 173/62).


Das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung enthält ein kollektives Element (BAG v. 21. 4. 2010 - 10 AZR 163/09). Sie bezieht sich auf eine Vielzahl von Arbeitnehmern oder zumindest auf eine abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern, ohne dass individuelle Besonderheiten die vertraglichen Beziehungen gestalten. Auch wenn es an einer betrieblichen Übung fehlt, weil beispielsweise der Arbeitgeber eine Zahlung nur an einen Arbeitnehmer vorgenommen hat und damit das kollektive Element fehlt, kann für diesen ein Anspruch aufgrund einer individuellen arbeitsvertraglichen konkludenten Abrede entstanden sein. Dies ist der Fall, wenn der Arbeitnehmer aus einem tatsächlichen Verhalten des Arbeitgebers auf ein Angebot schließen konnte, das er gem. § 151 BGB durch schlüssiges Verhalten angenommen hat (BAG v. 13. 5. 2015 - 10 AZR 266/149). Wenn etwa über mehrere Jahre an einen Arbeitnehmer ein Jahresbonus ohne Freiwilligkeits- oder Widerrufsvorbehalt gezahlt wird, kann daraus auf ein Angebot des Arbeitgebers geschlossen werden, das vom Arbeitnehmer stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB).


Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist die Inbezugnahme von Tarifverträgen auch im Wege der betrieblichen Übung möglich (BAG v. 9. 5. 2007 - 4 AZR 275/06 m. w. N.). Allerdings unterscheidet das BAG zwischen der

  •    Verpflichtung, aufgrund betrieblicher Übung einen bestimmten Tarifvertrag weiterhin anzuwenden, und der
  •    Verpflichtung, auch künftige Tarifverträge (z. B. künftige Tariferhöhungen) umzusetzen.


Es ist danach in jedem Einzelfall zu prüfen, ob durch die konkrete Verhaltensweise des Arbeitgebers eine betriebliche Übung im Sinne einer dynamischen Bezugnahme auf die einschlägigen Tarifverträge oder nur im Sinne der weiteren Anwendung eines bestimmten Tarifvertrags vereinbart worden ist (BAG v. 9. 5. 2007 - 4 AZR 275/06). Bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber wird eine betriebliche Übung der Erhöhung der Löhne und Gehälter entsprechend der Tarifentwicklung in einem bestimmten Tarifgebiet nur entstehen, wenn es deutliche Anhaltspunkte im Verhalten des Arbeitgebers dafür gibt, dass er auf Dauer die von den Tarifvertragsparteien ausgehandelten Tariflohnerhöhungen übernehmen will (BAG v. 19. 10. 2011 - 5 AZR 359/10). Ein Anspruch aufgrund betrieblicher Übung entsteht dann nicht, wenn der Arbeitgeber bei der Erbringung der Leistung ausdrücklich (z. B. in Form eines Freiwilligkeits- oder Widerrufsvorbehalts) darauf hinweist, dass aus ihrer Gewährung für die Zukunft kein Rechtsanspruch abgeleitet werden kann.

Von einer betrieblichen Übung kann nach Ansicht des BAG trotz wiederholt gezahlter Leistungen auch dann nicht ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber die Leistungen erkennbar auf Grund einer anderen und sei es auch einer tatsächlich nicht bestehenden Rechtspflicht hat erbringen wollen (BAG v. 30. 5. 2006 - 1 AZR 111/05, NZA 2006, 1170). Will sich der Arbeitgeber von Ansprüchen, die aus einer betrieblichen Übung entstanden sind, »befreien«, so ist dies nur auf dem Wege der Änderungsvereinbarung mit den betroffenen Arbeitnehmern bzw. durch Änderungskündigung möglich.

Keine gegenläufige betriebliche Übung

Nach einer zeitweise vom 10. Senat des BAG vertretenen Auffassung konnte ein aufgrund betrieblicher Übung entstandener Anspruch auch durch eine »gegenläufige« betriebliche Übung wieder entfallen, wenn der Arbeitgeber eine bislang vorbehaltlos gewährte Leistung fortan nur noch unter einem Freiwilligkeitsvorbehalt (der z. B. in einem Aushang oder in der Lohnabrechnung erklärt wird) erbringt und die Arbeitnehmer der neuen Handhabung über den Zeitraum von drei Jahren nicht widersprechen (vgl. z. B. BAG v. 26. 3. 1997 - 10 AZR 612/96).

Folge: im vierten Jahr könne der Arbeitgeber die Weihnachtsgeldzahlung einseitig kürzen oder widerrufen (wobei Kürzung oder Widerruf »billigem Ermessen« gemäß § 315 BGB entsprechen mussten). Die Beschäftigten mussten also der Änderung der bisherigen Handhabung ausdrücklich widersprechen, wenn sie den Wegfall des Anspruchs vermeiden wollten.

Mit der Entscheidung v. 18. 3. 2009 hat der 10. Senat des BAG seine Rechtsprechung zur »gegenläufigen betrieblichen Übung« zu Recht aufgegeben (BAG v. 18. 3. 2009 - 10 AZR 281/08, NZA 2009, 601). Die Annahme, durch eine dreimalige widerspruchslose Entgegennahme einer vom Arbeitgeber ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit gezahlten Gratifikation werde die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gratifikationszahlung aus betrieblicher Übung beendet, sei mit dem Klauselverbot für fingierte Erklärungen in § 308 Nr. 5 BGB nicht zu vereinbaren. Die Vorschrift lautet: »In Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist insbesondere unwirksam … eine Bestimmung, wonach eine Erklärung des Vertragspartners des Verwenders bei Vornahme oder Unterlassung einer bestimmten Handlung als von ihm abgegeben oder nicht abgegeben gilt, es sei denn, dass dem Vertragspartner eine angemessene Frist zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung eingeräumt ist und der Verwender sich verpflichtet, den Vertragspartner bei Beginn der Frist auf die vorgesehene Bedeutung seines Verhaltens besonders hinzuweisen …«

Bedeutung für die Betriebsratsarbeit

Gelegentlich gibt es Versuche von Arbeitgebern, sich von Ansprüchen, die durch betriebliche Übung begründet wurden, durch Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat zu befreien. Dies ist unzulässig. Betriebsvereinbarungen können wegen des Günstigkeitsprinzips arbeitsvertragliche Ansprüche nicht beseitigen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Anspruch durch ausdrückliche bzw. konkludente (d. h. sich aus den Umständen ergebende) Vereinbarung oder durch eine betriebliche Übung begründet worden ist.

Bedeutung für die Beschäftigten

Ansprüche, die durch betriebliche Übung begründet worden sind, kann der Arbeitnehmer notfalls im Klagewege vor dem Arbeitsgericht verfolgen. Etwaige geltende vertragliche oder tarifliche Ausschlussfristen/Verfallfristen (und natürlich auch die Verjährungsfrist) müssen eingehalten werden. Gegenüber einer Änderungskündigung, mittels derer der Arbeitgeber Ansprüche aus einer betrieblichen Übung beseitigen will, kann der Arbeitnehmer Änderungsschutzklage beim Arbeitsgericht erheben.


Quelle: www.bund-verlag.de