Beschäftigungssicherung durch künstliche Intelligenz
Der Betriebsratsvorsitzende am Siemens-Standort in Tübingen verrät, wie dort mit der Einführung künstlicher Intelligenz Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze gesichert worden sind. Das Projekt erhielt den Goldpreis des Deutschen Betriebsräte-Preises 2019!
Welchen Stellenwert hat künstliche Intelligenz (KI) und Robotik in der Fertigung der Siemens AG am Standort Tübingen?
Es gibt mehrere Einsatzbereiche. Zum einen ist das die Robotic Process Automation (RPA). Hier sind wir im Bereich der Auftragsabwicklung Logistik so weit, dass etwa 70 Prozent der Aufträge automatisiert bearbeitet werden. Vor der Einführung war das bei gerade mal einem Prozent der Fall. Außerdem stehen weitere Pilotprojekte an, die Statistik-Berechnungen und das Anlegen von Bestellungen für den Servicebereich beinhalten. Hier werden unseren Berechnungen zufolge rund 300 Stunden im Jahr frei. Aber in erster Linie geht es um Zeiteinsparungen und um die Reduzierung der körperlichen Belastungen – natürlich auch im Bereich Montage und Fertigung, wo Roboter zum Einsatz kommen. Der dritte Bereich sind die Fahrerlosen Transportsysteme (FTS) im Fehlteile-Management an den Montagelinien und bei der Abholung von fertigmontierten Getrieben.
War das Gremium bei der Einführung eingebunden?
Hierzu muss man kurz in die Vergangenheit schauen, ins Jahr 2017. Damals stand die Verhandlung eines Interessensausgleichs und Sozialplans zum Erhalt des Standorts Tübingen auf dem Plan. In den Verhandlungen wurde eine Förderung der Digitalisierung am Standort vereinbart, um den Erhalt der Montage mit den angrenzenden Bereichen in Tübingen zu festigen – mit Erfolg. In der Anfangsphase wurde der Betriebsrat nicht als wichtiges Bindeglied beim Umsetzen der Prozesse eingestuft. Doch schon nach den ersten Versuchen der Werksleitung, in den genannten Bereichen die Digitalisierung einzuführen, gab es Gegenwind seitens der Beschäftigten, die teilweise die Mitarbeit verweigerten. Sie sahen die Maßnahmen nicht als Innovation, sondern eher als Überwachung.
Der Betriebsrat reagierte, indem er auf seine Mitbestimmungsrechte aus dem BetrVG verwies und fungierte ab diesen Zeitpunkt als ein wichtiges Bindeglied zwischen Beschäftigten und Projektleitern, die Zusammenarbeit fand nur noch in dieser Kooperation statt. Der Betriebsrat stärkt und überwacht die Maßnahmen in einer Schlüsselfunktion – das führt zu Erfolgen, aber auch zur Einhaltung von Gesetzen im Rahmen der Umsetzung.
Wurde die Belegschaft qualifiziert?
Es war uns von vornherein klar, dass wir für die Planung und Umsetzung der Maßnahmen Expertinnen und Experten benötigen würden, die wir nicht hatten. Aber – insbesondere im Südwesten – war und ist es auch weiterhin schwierig, geeignetes Personal zu finden. Umso wichtiger war es, sich um die Qualifizierung der eigenen Mannschaft zu kümmern. Und man kann es nicht anders sagen: Qualifikation ist das wichtigste Instrument, um erstens Vertrauen zu gewinnen und zweitens die Kolleginnen und Kollegen für die neuen Herausforderungen fit zu machen. Wir alle wissen: Bildung schützt auch vor Arbeitsplatzverlust.
Deshalb haben wir für die oben genannten Projekte einige Mitarbeiter/innen geschult und qualifiziert. Die Siemens AG, der Gesamtbetriebsrat und die IG Metall haben einen Zukunftsfonds für Deutschland implementiert. Hier kann sich jeder Standort und jede Niederlassung mit Qualifizierungsinhalten bewerben, um einen Zuschuss zu erhalten. Am Standort Tübingen haben wir mit der Werksleitung zusammen die benötigten Qualifizierungs- und Schulungsmaßnahmen ermittelt und ausgearbeitet. Dies wurde dem Ausschuss des Zukunftsfonds vorgestellt. Wir sind sehr zuversichtlich, dass unser Antrag bewilligt wird. Wenn die angestoßenen Maßnahmen beendet sind, sollen 70 Prozent der Belegschaft geschult und besser im Bereich Digitalisierung qualifiziert sein.
Gibt es Ängste in der Belegschaft?
Anfangs schon, doch durch die Aufklärung und Einbeziehung der Kolleginnen und Kollegen bei den Projekten wurden die Ängste und Sorgen minimiert. Es ist wichtig, dass vor allem wir Betriebsräte offen und ehrlich mit der Belegschaft über die Notwendigkeit der Digitalisierung sprechen und über Chancen und natürlich auch die Risiken informieren. Ich denke, das ist uns gut gelungen. Wir haben die Notwendigkeit der Innovation gut vermittelt.
Gilt eine Betriebsvereinbarung?
Durch einen Interessenausgleich 2017 wurde vereinbart, dass der Standort Tübingen künftig zur Vorzeigefabrik für Digitalisierung und Industrie 4.0 ausgebaut wird. Die Verhandlungen hat eine Projektgruppe bestehend aus Betriebsratsmitgliedern des Standorts im Auftrag des Gesamtbetriebsrats der Siemens AG geführt. Wichtiges Ergebnis der Verhandlungen: Digitalisierung und künstliche Intelligenz dürfen keine Verhaltenskontrolle der Mitarbeiter/innen ermöglichen. In der Tat gibt es Software, die das ermöglicht. Deshalb haben wir eine Betriebsvereinbarung erarbeitet, die Verhaltenskontrolle ausschließt.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Das wir bis 2021 unser Ziel erreichen, in Tübingen eine digitale Vorzeigefabrik zu werden. Wohl wissend, dass wir die Zahl der Beschäftigten ohne entsprechendes Wachstum nicht halten können.
Was ist nach Ihrer Erfahrung besonders wichtig bei der Digitalisierung?
Das Wichtigste ist, die Belegschaft abzuholen, mitzunehmen, einzubeziehen und zu qualifizieren. Hier hat der Betriebsrat eine besonders große Verantwortung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man niemals etwas an den Menschen vorbei einführen sollte, aber auch, dass man immer über mögliche Gefahren wie Stellenabbau informieren muss. Die Betroffenen sollten daher früh ins Boot geholt, schon in der Planungsphase einbezogen werden. Es ist absolut wichtig, die Bedenken und Wünsche der Kolleginnen und Kollegen ernst zu nehmen.
Quelle: www.bund-verlag.de